Persönlichkeit
January 27, 2025

Scham überwinden: Wie Selbstmitgefühl uns stark macht

Relievr
Blog
Frau legt ihre Hände fürsorglich auf die Brust – Symbol für Selbstmitgefühl und emotionale Stärke.
Text zuletzt aktualisiert am
27.1.2025
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6
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Man sitzt in einer Runde mit Leuten, die alle irgendwie kompetent wirken, und plötzlich steigt das Gefühl auf, als wäre man der einzige Versager im Raum. Scham brennt sich ins Gesicht, und der Puls rast. Vielleicht ist es die Angst, sich zu blamieren, oder der Gedanke, dass alle anderen einen für unfähig halten. Solche Situationen kennen viele, doch kaum jemand redet offen darüber. Scham fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube – man kann schwer atmen, man will weg oder unsichtbar werden. Und so blöd das klingt: Oft hat Scham weniger damit zu tun, dass man wirklich Mist gebaut hätte, sondern vielmehr mit der Angst vor Ablehnung.

Viele Menschen denken, Scham und Schuld wären ähnlich, doch da gibt es einen großen Unterschied. Schuld bedeutet „Ich habe etwas falsch gemacht.“ Scham hingegen heißt „Mit mir stimmt etwas nicht.“ Anders gesagt, man hält sich selbst für defekt, nicht nur die Sache, die man getan hat. Dieses innere Gefühl, grundsätzlich falsch zu sein, hindert einen oft daran, im Leben frei zu agieren. Man wird übervorsichtig, weil man glaubt, bei jedem kleinsten Fehltritt als Person durchzufallen. Scham treibt uns außerdem in eine Spirale: Aus Angst vor Kritik versucht man, Fehler um jeden Preis zu vermeiden, oder man spielt eine perfekte Rolle, bis man völlig erschöpft ist. Man kann sich auch aggressiv verteidigen, damit bloß niemand die eigenen wunden Punkte sieht.

Warum erleben so viele Leute Scham so intensiv? Ein Grund ist unser grundlegendes Bedürfnis, akzeptiert zu werden. Wir wollen dazugehören, gemocht werden, nicht allein dastehen. Wenn uns irgendwann – vielleicht schon in der Kindheit oder in peinlichen Situationen – das Gefühl vermittelt wurde, wir wären unwürdig oder peinlich, kann sich daraus eine chronische Schamhaltung entwickeln. Man spürt ständig, dass man sich rechtfertigen muss oder Angst hat, etwas falsch zu machen. Ironischerweise wollen wir zwar alle dazugehören, aber genau diese Angst, nicht dazuzugehören, verursacht das Schamgefühl.

Was hilft? Ein Ansatz, der oft genannt wird, ist Selbstmitgefühl. Viele rümpfen erst mal die Nase, weil das nach Wellnessmagazin klingt, aber dahinter steckt etwas Erstaunliches. Selbstmitgefühl heißt nämlich nicht, sich alles schönzureden. Es bedeutet, im Moment der Scham innezuhalten und sich so zu behandeln, wie man es bei einem Freund täte, der völlig fertig ist. Hört sich simpel an, ist aber ungewohnt. Denn normalerweise gehen wir mit uns selbst ziemlich hart ins Gericht. Wir nennen uns innerlich Versager oder denken, wir hätten es nicht verdient, anerkannt zu werden.

Wenn man jedoch versucht, sich in einer Schamsituation zu sagen: „Okay, das fühlt sich gerade verdammt schrecklich an, aber es ist normal, dass ich so reagiere. Es heißt nicht, dass ich als Mensch eine Niete bin“, dann merken viele, dass sich etwas entspannt. Dieser Schritt besteht aus drei Teilen. Erstens achtsam wahrnehmen, dass man sich schämt: „Ich spüre Druck im Brustkorb, ich will mich ducken, ich möchte aus dem Raum rennen.“ Allein das zu registrieren, verschafft etwas Abstand. Zweitens erkennen, dass es eben nicht nur uns so geht, sondern dass Scham ein typisch menschliches Gefühl ist. Jeder kennt diese Momente, nur spricht kaum jemand drüber. Damit ist das Gefühl, völlig allein mit seiner Peinlichkeit zu sein, ein bisschen kleiner. Und drittens eine selbstfreundliche Reaktion: „Es ist okay, sich so zu fühlen. Das heißt nicht, dass ich unfähig bin. Ich darf mich gerade mies fühlen.“

Solch eine innere Haltung kann richtig viel ändern. Denn wer sich selbst immer nur abwertet, der lähmt sich. Perfektionismus blüht oft in einem Umfeld, in dem Scham groß ist. Man versucht, jede Schwäche zu überspielen, weil man glaubt, sonst komplett abzustürzen. Das ist auf Dauer enorm anstrengend und verhindert, dass man sich tatsächlich verbessert – denn wer nur Angst hat, bloßgestellt zu werden, probiert weniger Neues aus. Menschen, die sich selbst mit Verständnis begegnen, haben paradoxerweise oft mehr Biss, konstruktiv an ihren „Baustellen“ zu arbeiten, weil sie Fehler nicht als Versagen sehen, sondern als normal und menschlich.

Was für viele überraschend ist: Scham lässt nach, sobald wir bemerken, dass sie kommt, und nicht mit ihr verschmelzen. Genau das schafft Selbstmitgefühl. Es ist kein Wundermittel, das Scham komplett ausmerzt. Aber es sorgt dafür, dass man nicht mehr glaubt, als Mensch unrettbar defekt zu sein, nur weil eine Situation peinlich war oder man sich in irgendwas unfähig fühlt. Letztlich ist Scham am Ende nur ein Gefühl, das Signale aussendet. Die Frage ist, ob wir diese Signale als persönliches Todesurteil verstehen oder als Hinweis, dass wir gerade dringend Wärme, Verständnis und eine Portion Realitätssinn brauchen.

Indem wir lernen, die eigene Scham zu sehen, ohne sie uns in den Kern hinein zu fräsen, können wir uns selbst mit mehr Leichtigkeit begegnen. Das bedeutet nicht, dass man jetzt alles rosarot sieht. Aber man erkennt, dass man zwar manchmal unsichere, fehlbare Entscheidungen trifft, dadurch aber nicht als Mensch zur Gänze abgewertet werden muss. Genau diese Sicht kann eine große Befreiung sein. Denn dann überlässt man das Gefühl der Scham nicht mehr kampflos das Feld, sondern lernt, damit umzugehen – Schritt für Schritt, in dem Bewusstsein, dass es jedem so gehen kann. Man ist nicht alleine damit und hat ein Recht darauf, sich selbst genauso fair zu behandeln, wie man es für jeden anderen auch tun würde.