Text zuletzt geändert am 15.05.2024
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Alle hier geteilten Klient:innengeschichten basieren auf realen Ereignissen und wurden mit Zustimmung der betroffenen Personen veröffentlicht. Sämtliche persönlichen Informationen und Namen wurden derart modifiziert, dass keine Rückschlüsse auf die individuellen Personen möglich sind. Zudem bleiben die identitäten unserer schreibenden Psychologinnen und Psychologen anonym, um eine unvoreingenommene Wahl Ihrer Beratungsperson zu gewährleisten.
Vor kurzem kam Thomas, ein 48-jähriger Verwaltungsbeamter zum ersten Mal in meine Beratung. Als es losging, sah ich einen ganz ruhig wirkenden, fast zurückhaltenden Mann auf meinem Bildschirm.
„Willkommen, Thomas. Ich freue mich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben. Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich freundlich.
Thomas nickte kurz.
„Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas mache.“
„Das ist völlig in Ordnung. Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Erzählen Sie einfach, was Sie herführt,“ ermutigte ich ihn.
„Nun, es geht um diese Panikattacken,“ begann Thomas zögerlich. „Ich bekomme sie seit etwa sechs Monaten, und sie treten immer auf, wenn ich im Zug bin. Dabei fahre ich seit Jahren mit dem Zug zur Arbeit, aber plötzlich habe ich diese beklemmenden Gefühle. Mir wird mittlerwiele morgens schon schlecht, wenn ich das Haus verlasse und zum Bahnhof gehe.“
„Das klingt nicht gut. Seit sechs Monaten, sagen Sie?“ fragte ich.
„Ja, das war an einem Montagmorgen im letzten Herbst. Der Zug war ungewöhnlich voll, und ich stand eingequetscht zwischen den anderen Pendlern. Das passiert immer mal wieder, wenn der vorherige Zug ausgefallen ist und so etwas liegt ja bei der Bahn mittlerweile an der Tagesordnung. Aber hat mir eigentlich noch nie etwas ausgemacht für die kurze Fahrtzeit. Plötzlich wurde mir aber heiß, mein Herz begann zu rasen, und ich hatte das Gefühl, dass ich hier raus musste. Es war so, als würde ich ersticken.“
„Das muss sehr beängstigend gewesen sein. Haben Sie das Gefühl, dass es mit der Enge im Zug zusammenhängt?“ hakte ich nach.
„Ja, definitiv. Immer wenn mittlerweile der Zug gefüllter ist oder wenn ich das Gefühl habe, nicht aussteigen zu können, bekomme ich diese Panikattacken. Ich habe auch schon versucht, zu anderen Zeiten zu fahren, aber es hat sich nichts geändert,“ erklärte Thomas, sichtlich angespannt.
„Haben Sie ähnliche Gefühle auch in anderen Situationen, wo es eng wird?“ fragte ich weiter.
„Ja, aber nicht so arg... Ich habe manchmal auch Schwierigkeiten in Aufzügen oder wenn ich in einem überfüllten Raum bin. Vor kurzem war ich mit meiner Frau bei einem Konzert. Es war zwar bestuhlt, aber da war es auch so,“ antwortete Thomas nachdenklich.
„Das klingt nach einer Art Klaustrophobie, die durch die Enge ausgelöst wird. Haben Sie das schon immer so empfunden?“ erkundigte ich mich.
„Nein, das ist neu für mich. Früher hatte ich keine Probleme damit. Es hat einfach plötzlich angefangen, und ich weiß nicht warum.“
„Verstehe. Geben Sie mir mal bitte einen Einblick in Ihr aktuelles Leben. Wie sieht Ihr Alltag aus?“ fragte ich, um mehr über seine Lebenssituation zu erfahren.
„Nun, ich arbeite seit 20 Jahren bei einer Landesverwaltungsbehörde. Jeden Tag fahre ich 30 Kilometer mit dem Zug zur Arbeit. Ich bin seit 26 Jahren mit meiner Frau verheiratet, wir leben in einem gemeinsamen Haus auf dem Land. Wir haben uns kennengelernt, als wir 17 waren, haben mit 22 geheiratet. Leider ist unsere Ehe kinderlos geblieben, obwohl wir uns immer Kinder gewünscht haben,“ erzählte der Klient, seine Stimme klang dabei resigniert.
„Es klingt, als hätten Sie ein sehr beständiges Leben.“, entgegnete ich.
Thomas nickte. „Ja, so kann man das wohl nennen. Manchmal frage ich mich, ob das schon alles gewesen ist. Ich bin jetzt 48 und da macht schon mal eine Bestandsaufnahme. Mehr als die Hälfte ist schon rum, vermutlich. Ich mag die Sicherheit, aber manchmal wünsche ich mir mehr Abwechslung.“
Er hielt einen Moment inne. „Ich habe ein gutes Leben, keine Frage. Eine sichere Arbeitsstelle, ein schönes Haus, eine Frau, die ich liebe. Aber manchmal fühle ich mich, als würde ich auf der Stelle treten. Alles ist so vorhersehbar. Jeden Tag der gleiche Ablauf: Aufstehen, zur Arbeit fahren, zurückkommen, abendessen, fernsehen, schlafen gehen. Am Samstag dann den Wocheneinkauf und sonntags fahren wir meist mit dem Fahrrad. Manchmal mit befreundten Paaren, manchmal zu zweit. Es gibt Tage, da frage ich mich, ob ich nicht irgendetwas verpasst habe.“
Thomas blickte nachdenklich zur Seite. „Vielleicht liegt es daran, dass wir keine Kinder haben. Das war immer ein großer Wunsch von mir, auch von meiner Frau, aber es hat einfach nicht geklappt. Manchmal denke ich darüber nach, wie mein Leben wohl anders verlaufen wäre.“
„Ich kann sie da gut verstehen, Thomas. Klingt für mich als ob Sie da etwas zerrissen sind, einerseits die Stabilität und Sicherheit in Ihrem Leben schätzen, aber andererseits das Gefühl haben, dass etwas fehlt oder Sie vielleicht Chancen verpasst haben. Diese widersprüchlichen Gefühle können belastend sein. Besonders der unerfüllte Kinderwunsch kann eine Leere hinterlassen und das Gefühl verstärken, dass etwas Wesentliches im Leben fehlt.“
Verpasste Chancen im Leben sind ein häufiges Thema, das viele Menschen im Laufe ihres Lebens beschäftigt. Oft blicken wir auf Entscheidungen zurück und fragen uns, was gewesen wäre, wenn wir einen anderen Weg eingeschlagen hätten. Solche Überlegungen können Gefühle von Reue, Trauer oder Unzufriedenheit auslösen, besonders wenn es um bedeutende Lebensziele oder Träume geht, die unerfüllt geblieben sind. Diese Reflexionen sind normal und können in bestimmten Lebensphasen, wie der Lebensmitte, besonders intensiv werden. Sie spiegeln das menschliche Bedürfnis wider, ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen. Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, kann jedoch auch eine Chance sein, bewusstere Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, neue Ziele zu setzen und möglicherweise lang gehegte Wünsche doch noch zu verwirklichen. Indem wir uns mit diesen Gefühlen auseinandersetzen, können wir lernen, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen und Wege zu finden, die verbleibende Zeit bewusst und erfüllend zu gestalten.
„Wie hat die Kinderlosigkeit Ihre Ehe beeinflusst? Haben Sie und Ihre Frau darüber gesprochen?“ fragte ich behutsam weiter.
„Ja, wir haben viel darüber geredet. Es gab Abende und Nächte, in denen wir einfach nur zusammen geweint haben. Es war schwer, besonders weil wir beide uns immer Kinder gewünscht haben. Es ist irgendwie okay jetzt, wir haben uns damit arrangiert, aber es bleibt immer noch ein Restgefühl. Diese Frage, was wäre wenn... die geht nicht einfach weg.“
„Das ist sehr wichtig.“, entgegnete ich. „Es ist auch völlig normal, dass solche tiefen Wünsche und die damit verbundenen Gefühle immer wieder auftauchen. Diese ungelösten Fragen können eine ständige Hintergrundpräsenz haben, die sich auch in anderen Lebensbereichen bemerkbar macht.“
Nach einem kurzen Moment fuhr ich mit einem Deutungsversuch fort. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es dafür vielleicht noch zu früh war, aber ich folgte meiner Intuition.
„Thomas, könnte es sein, dass diese Gefühle von Enge und Vorhersehbarkeit in Ihrem Leben sich in den Panikattacken widerspiegeln? Dass Sie sich möglicherweise auch in Ihrem Leben etwas eingeengt fühlen?“ spekulierte ich.
Thomas schaute mich überrascht an. „Meinen Sie?“
„Es ist gut möglich, dass Ihre Panikattacken eine Art Ventil sind für Gefühle und Wünsche, die Sie bisher nicht zugelassen haben. Und vielleicht auch für noch nicht verarbeitete Gefühle und Schmerz. Der Schmerz des nicht gelebten Lebens.“
Ja, da haben Sie recht. Da ist sicherlich etwas dran. Ich fühle mich oft gefangen in meiner Routine, aber ich wusste nicht, dass das solche Auswirkungen haben könnte.“
„Das bedeutet jetzt auch nicht, dass Sie sofort Ihr ganzes Leben über den Haufen werfen müssen,“ beruhigte ich ihn. „Sie haben sich da ein ganz solides Leben aufgebaut, um das Sie viele beneiden würden. Das hat ja Substanz und trägt auch. Es geht gar nicht darum, Tabula rasa zu machen. Wir stellen die Dinge erst mal auf den Prüfstand und gucken, wie das mit Ihrer Panik zusammenhängt. Auch kleine Anpassungen können schon große Veränderungen bewirken, und vor allen Dingen geht es vermutlich viel mehr um innere Arbeit als um Veränderungen im Außen. Was halten Sie davon?“
„Ja, das klingt gut. Ich denke, ich bin bereit, das anzugehen,“ stimmte Thomas zu, erstmals mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
„Vielleicht können wir gemeinsam Wege finden, wie Sie Ihrem Leben mehr von dieser erträumten Freiheit und Abwechslung leben können. Ohne sofortige Änderungen, aber vielleicht kleine Schritte, die in diese Richtung gehen. Was halten Sie davon?“ schlug ich vor.
In einer Handvoll Sitzungen wurde deutlich, dass das Thema des nicht gelebten Lebens in Thomas‘ Leben sehr präsent war und ihm großen Stress verursachte. Er stellte vieles infrage und hatte das Gefühl, nicht sein volles Potenzial ausgeschöpft zu haben. Gemeinsam schauten wir darauf, was er bereits alles erreicht hatte, und reflektierten diese Aspekte seines Lebens. Mit der Zeit erkannte Thomas, dass er eigentlich schon eine ganze Menge in seinem Leben erreicht hatte, auch wenn er das bisher nicht so gefühlt hatte. Er begann langsam Stolz zu fühlen.
Besonders der unerfüllte Kinderwunsch lag Thomas nach wie vor schwer auf dem Herzen. In den Sitzungen konnten wir diesen Verlust ein Stück weit aufarbeiten, sodass Thomas schließlich innerlich von diesem Wunsch Abschied nehmen konnte. Danach zeigte er sich befreiter, was sich auch in seinem Alltag bemerkbar machte. Zwar waren die Panikattacken noch nicht vollständig verschwunden, aber sie traten deutlich seltener auf.
Thomas sprach auch mit seiner Frau viel über die Erkenntnisse aus den Sitzungen. Sie zeigte großes Verständnis, und gemeinsam suchten sie nach Wegen, mehr Abwechslung in ihr Leben zu bringen. Sie entschieden sich, einen Camper zu kaufen, mit dem sie nun regelmäßig auf Entdeckungstouren gingen. Häufig machten sie Tagesausflüge oder fuhren über ganze Wochenenden weg. Sie hatten sich vorgenommen, im Laufe des Jahres, soweit es ihre Arbeits- und Urlaubszeiten zuließen, auch häufiger weiter wegzufahren.
Zudem entdeckte der Klient noch eine völlig neue Facette seiner Persönlichkeit. Denn er meldete sich spontan für einen Comedy-Kurs an. Ein Kurs indem man das Handwerkszeug eine Comedian erlernen konnte. Obwohl er die Idee, auf einer Bühne zu stehen, nie für sich in Betracht gezogen, reizte ihn der Gedanke. Er hatte darüber vor Jahren in einer Zeitschrift gelesen und seitdem immer mal wieder daran gedacht. Er erzählte in den Sitzungen von dieser Idee, und schließlich wagte er den Schritt. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ihm das tatsächlich sehr viel Freude machte und er sich dadurch wieder wie Mitten im Leben fühlte.
Thomas fand durch diese Erkenntnisse und neuen Erlebnisse mehr Erfüllung und Lebendigkeit in seinem Alltag, was wiederum seine Panikattacken reduzierte.