Persönlichkeit
December 6, 2024

Nur weil es brennt, heißt das nicht, dass du daran stirbst

Relievr
Blog
Wie du mit Stress und Ängsten umgehst und wieder Kontrolle über dein Leben gewinnst.
Text zuletzt aktualisiert am
17.1.2025
Geschätzte Lesezeit: ca.
5
min.

Kennst Du noch den Song „Try“ von der US-amerikansichen Sängerin Pink? Er wurde bereits 2012 veröffentlicht. Vermutlich hast Du den Track auch schon mal irgendwo gehört. In dem Song gibt es eine interessante Zeile, die im orginal heißt: Just because it burns, does not mean you are gonna die, zu deutsch, nur weil es brennt, heißt es nicht, dass du daran sterben wirst. Diese Zeile trifft eine Wahrheit, die im Kern so einfach und doch so schwer zu leben ist: Gefühle - gerade starke - auszuhalten, sie zu spüren, ohne vor ihnen davonzulaufen, ist eine der größten Herausforderungen, die uns das Leben stellt. Gerade, weil es sich häufig ein wenig wie sterben anfühlen kann.

Entfremdet von den eigenen Gefühlen

Was machen wir, wenn es in uns brennt? Schmerz, Trauer, Wut – starke Gefühle fühlen sich mitunter so an, dass sie uns überrollen, uns mitreißen, und unser erster Reflex ist oft Flucht. Wir scrollen auf unseren Handys, essen, trinken, arbeiten, suchen Ablenkung – alles nur, um das Brennen, das Stechen, das Ziehen im Bauch, im Körper nicht fühlen zu müssen. Doch was passiert, wenn wir diesen Gefühlen tatsächlich Raum geben? Was, wenn wir dem Feuer erlauben, zu brennen?

Wir lernen früh, unsere Gefühle zu verstecken. Nicht, weil wir wollen, sondern weil uns beigebracht wird, dass manche Gefühle „zu viel“ sind. Trauer, Wut, Angst – all das soll bitte nicht stören. Sei brav, sei ruhig, sei angepasst. Wir wachsen mit diesen Botschaften auf. Sie kommen subtil, in gut gemeinten Belehrungen, oder direkt, als harsche Korrektur: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Was bleibt, ist eine Lektion, die wir unbewusst in unser Innerstes schreiben: Gefühle machen Probleme. Gefühle sind Schwäche.

So entsteht eine Trennung in uns. Da ist das, was wir spüren, und da ist das, was wir zeigen dürfen. Und diese beiden Welten klaffen immer weiter auseinander, je älter wir werden. Als Kind weint man noch laut, wenn etwas schmerzt. Als Teenager zieht man sich ins Zimmer zurück und wartet, bis niemand zusieht. Als Erwachsener presst man ein Lächeln auf die Lippen, auch wenn es innen tobt.

Das Problem ist: Gefühle verschwinden nicht, nur weil wir sie ignorieren. Sie bleiben. Sie verstecken sich, sie nisten sich ein. In unserem Körper, in unseren Gedanken. Sie finden Wege, sich Gehör zu verschaffen – als Spannung im Nacken, als Unruhe im Herzen, als dumpfer Schmerz, der uns nachts wach hält. Was nicht gefühlt wird, sucht andere Auswege. Es drückt sich aus, ob wir es wollen oder nicht.

Es geht nur in kleinen Schritten

Aber wie soll man das lernen, was man nie durfte? Fühlen. Es klingt so einfach, ist aber so schwer, wenn es einem jahrelang aberzogen wurde. Wie geht das, einen Schmerz zuzulassen, ohne sich dafür zu schämen? Wie geht das, Wut zu spüren, ohne sie sofort zu unterdrücken? Und vor allem: Wie geht das, sich selbst mit all dem Chaos in sich anzunehmen?

Der erste Schritt ist vielleicht, zu verstehen, dass Gefühle keine Feinde sind. Sie sind nicht da, um uns zu quälen. Sie sind da, um uns etwas zu sagen. Angst warnt uns vor Gefahr. Trauer zeigt uns, dass wir etwas verloren haben, das uns wichtig war. Wut weist uns darauf hin, dass eine Grenze überschritten wurde. Gefühle sind wie innere Wegweiser. Sie führen uns dorthin, wo wir genauer hinschauen müssen.

Und vielleicht ist der zweite Schritt, sich wieder wie ein Kind zu fühlen – das Kind, das man einmal war, bevor man gelernt hat, seine Gefühle zu verstecken. Dieses Kind wusste, wie man trauert, wie man schreit, wie man lacht. Es hat das Feuer in sich gespürt und es nicht gefürchtet. Es wusste noch nicht, dass die Welt es dafür verurteilen könnte.

Es gibt keinen perfekten Weg zurück zu diesem Fühlen. Es ist ein ständiges Üben. Ein Hinspüren. Ein Zulassen. Manchmal fühlt es sich an wie eine Flut, die einen überwältigt. Aber genau diese Flut macht Platz. Für Heilung, für Lebendigkeit, für ein echtes, tiefes Sein.

Denn was ist das Leben, wenn wir es nicht fühlen? Was bleibt, wenn wir immer nur verdrängen? Vielleicht ist es an der Zeit, sich all das zurückzuholen, was man als Kind verloren hat – das Recht, zu fühlen. Egal, wie laut, wie roh, wie unangenehm es manchmal sein mag. Gefühle machen uns nicht schwach. Sie machen uns menschlich.

Die Sache mit dem Widerstand

Es gibt eine seltsame Ironie im Umgang mit Gefühlen. Je mehr wir versuchen, sie zu kontrollieren, desto mehr kontrollieren sie uns. Doch je mehr wir sie akzeptieren, desto mehr lösen sie sich auf. Ein Schmerz, den wir willkommen heißen, verliert seine Macht. Eine Trauer, die wir zulassen, heilt. Wut, die wir fühlen dürfen, ohne uns von ihr überwältigen zu lassen, verwandelt sich in Kraft.

Gefühle auszuhalten ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Es ist der Mut, sich selbst zu begegnen – in der Tiefe, in der Dunkelheit, in der Hitze des Moments. Es ist die Bereitschaft, zu brennen, ohne zu verbrennen.

Grundsätzlich gilt, dass das Annehmen von Gefühlen ein wichtiger Schritt zur Heilung und Selbstannahme ist. Doch es gibt Ausnahmen: Bei Menschen, die traumatische Erlebnisse durchgemacht haben, kann diese Fähigkeit vorübergehend oder auch längerfristig eingeschränkt sein. In solchen Fällen ist es wichtig, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, da das Zulassen von Gefühlen oft nicht einfach allein bewältigt werden kann. Natürlich kann professionelle Hilfe auch in anderen Situationen sinnvoll sein, wenn man Schwierigkeiten hat, mit bestimmten Gefühlen umzugehen – doch gerade bei Trauma ist sie oft unerlässlich.

Pinks Song erinnert uns daran, dass das Leben uns manchmal bis an unsere Grenzen bringt. "Just because it burns doesn't mean you're gonna die." Der Schmerz ist real, aber er ist nicht alles. Er ist ein Teil der Geschichte, nicht das Ende. Und jedes Feuer, das wir überstehen, hinterlässt nicht nur Narben, sondern auch Stärke.